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In den letzten Jahren konnte man sich des Gefühls der Stagnation kaum erwehren: während politische und soziale Kämpfe weitgehend als Abwehrkämpfe gegen den Rückbau bestehender gesellschaftlichen Errungenschaften geführt werden und neue Ideen, ein Zugewinn an menschlicher Emanzipation und Solidarität oder gar die Vision einer radikal anderen Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes als utopisch erscheinen, zielen auch technischen Entwicklungen nicht mehr darauf, neue gesellschaftliche Perspektiven aufzuzeigen. Fortschritt, in der neoliberalen Marktideologie ohnehin nur noch als „Innovation“ oder „Wachstum“ vorstellbar, scheint sich in der Entwicklung von consumer electronics, dem alljährlichen Ersetzen eines Smartphones durch ein anderes und der Erfindung immer neuer und doch eigentlich immer gleicher Gadgets zu erschöpfen.
Am deutlichsten sichtbar scheint die Sphäre kultureller Produktion gekennzeichnet durch die Wiederholung des Immergleichen. Simon Reynolds hat hierfür den Begriff „Retromania“ geprägt: die Rekombination von historischen Versatzstücken insbesondere in der Musik, deren Fundus an Tonmaterial jederzeit abrufbar zur Verfügung steht und aktiviert werden kann. Unvorstellbar, dass uns neu veröffentliche Musik heute ein aufregendes, noch nicht dagewesenes Klangerlebnis erfahren lässt. Das Unheimliche dieser Wiederbelebungen, die uns mit Geistern untoter Songfetzen umgeben, lässt sich außer auf Film, Fernsehen und Mode auch auf viele weitere Aspekte des Lebens übertragen. Mark Fisher sieht hier einen direkten Zusammenhang zum Neoliberalismus, der uns um die Zukunft gebracht hat, oder genauer: „We are haunted by futures that failed to happen“. Nostalgische Effekte in der Popkultur lassen sich daher oftmals paradox als „Nostalgia for the Future“ auf den Punkt bringen – als Sehnsucht nach Zeiten, in denen die Gegenwart Perspektiven aufzeigte, Fortschritt noch möglich und die Zukunft wirklich Neues, Innovation und eine Verbesserung der Lebensumstände zu verheißen schien.
Das „Ende der Geschichte“, das nach dem Fall des Staatsozialismus proklamiert wurde, scheint sich in der Tat als hartnäckiger zu erweisen, als selbst seine Protagonist*innen zu hoffen gewagt hätten. Aber die Zukunft wird nicht nur auf ideologischer Ebene immer weniger vorstellbar; ihr werden auch durch Verknappung zeitlicher und finanzieller Ressourcen sowie fehlender gesellschaftlicher Gestaltungsräume real die Grundlagen zur Weiterentwicklung entzogen. Wurde bis in die 1980er-Jahre des vorigen Jahrhunderts die soziale und kulturelle Teilhabe wenn nicht aller, so doch möglichst vieler wenigstens noch pro forma als Ziel gesellschaftlicher Entwicklung postuliert, so praktiziert der neoliberale Kapitalismus heute in brutalster Offenheit die Abkopplung großer Teile der Bevölkerung oder ganzer peripherer Regionen vom gesellschaftlichen Reichtum. Im globalen Süden hat die Vorstellung einer „Entwicklung“ hin zu mehr Rechten, mehr Selbstbestimmung und mehr Wohlstand für die Mehrheit der Menschen ohnehin an Plausibilität verloren. „Fortschritt“ scheint weltweit nur noch als schrankenlose Erweiterung der kapitalistischen Verwertungsmaschinerie zu existieren, ohne Rücksicht auf menschliche Verluste oder die Zerstörung der biologischen Lebensgrundlagen auf diesem Planeten.
An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob die Idee des „Fortschritts“ nicht von jeher eine ideologische Erscheinungsform der kapitalistischen Verwertungslogik ist. Immerhin waren der liberale Fortschrittsoptimismus und die Expansion des Kapitalismus innerhalb und außerhalb Europas im 19. Jahrhundert eng miteinander verwobene Entwicklungen. Ein Großteil der Verwüstungen und Verbrechen, die in den letzten Jahrhunderten im Rahmen des Kolonialismus, des Faschismus oder des Stalinismus stattgefunden haben, geschahen im Namen des Fortschritts. Schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts haben Horkheimer und Adorno darauf hingewiesen, dass die europäisch-aufklärerische Konzeption von gesellschaftlicher Entwicklung extrem herrschaftsförmige Elemente beinhaltet. Postkoloniale Theoretiker*innen haben daran angeknüpft und gezeigt, dass im europäischen Begriff des Fortschritts auch eine rassistische Hierarchisierung steckt, die zu den zentralen Mechanismen kolonialer und postkolonialer Herrschaft gehört. Der Begriff, so die Kritik, postuliert einen alternativlosen Weg in eine „Moderne“, die europäischen Vorstellungen und Interessen entspricht und nichteuropäische Gesellschaften strukturell defizitär erscheinen lässt. Einige dieser Theoretiker*innen sind zu dem Schluss gekommen, dass auf die eurozentrischen Konzepte von Moderne, Entwicklung und Fortschritt ganz verzichtet werden muss, um diesem Herrschaftsmechanismus zu entgehen.
Ein einfaches Anknüpfen an das Fortschrittsdenken des 19. und 20. Jahrhunderts ist unmöglich, und auch die aktuellen Entwicklungen – zunehmender Rassismus, Brexit, Trump – lassen kaum an die Möglichkeit eines Fortschritts denken, sondern rücken für viele das Bewahren des Status quo in den Vordergrund. Und doch sind vielleicht gerade die Diskussionen um den Charakter der EU, um Glaubensfreiheit und um Migration ein Hinweis darauf, dass ohne den Blick nach vorn, ohne Ziele und Visionen, ohne eine Debatte darüber, wie wir leben wollen, der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Regression nichts entgegengesetzt werden kann. Auch viele der kleinen und großen sozialen Auseinandersetzungen, die in den Rissen der stillgestellen gesellschaftlichen Prozesse aufbrechen, weisen in diese Richtung. Wie lässt sich, vor dem doppelten Hintergrund des Stillstandes und Rückbaus emanzipatorischer Errungenschaften einerseits sowie der katastrophalen Konsequenzen (nicht nur) der westlichen Fortschrittsideologie andererseits, die Idee einer emanzipatorischen gesellschaftlichen, kulturellen und technischen Entwicklung heute noch denken?
Sowohl in Europa als auch im globalen Süden haben emanzipatorische Bewegungen seit jeher Fortschritt auf ihre Fahnen geschrieben und sich positiv auf die europäisch-aufklärerische Idee des Forschritts bezogen. Was also lässt sich von dieser Idee retten? Kann es einen Begriff von Fortschritt geben, der Ungleichzeitigkeiten zwischen Gesellschaften, kulturellen Sphären oder Wissensformen berücksichtigt? Ist Fortschritt anders denkbar als in einem Verständnis von Zeitlichkeit als linearem Ablauf? Kann es ein Verständnis von gesellschaftlichem Fortschritts geben, das imstande ist, über den real existierenden Kapitalismus hinaus zu weisen, gleichzeitig aber weder die europäische Vorstellung von Modernität und Entwicklung gewaltsam universalisiert, noch sich zu einem Instrument von Herrschaft machen lässt? In mehreren Veranstaltungen möchten wir mit unseren Referent*innen und Gästen darüber diskutieren, was Fortschritt als emanzipatorisches Konzept heute noch, wieder oder neu bedeuten kann.
21.11.2018
From Progress to Reparations: Justice, Epistemology, and the Postcolonial
Gurminder K Bhambra (Brighton)
9.1.2019
Körper, Technik – Fortschritt?
Andrea zur Nieden (Freiburg)
13.2.2019
Progressive Nostalgie: In Erinnerung an Mark Fisher
Kerstin Schoof (Frankfurt am Main)
13.3.2019
Fortschritt ohne Geschichte? Zur Aktualität Walter Benjamins Fortschrittskritik
Sami Khatib (Lüneburg)
10.4.2019
Vergangene Zukunft
Elfriede Müller (Berlin)
Vortrags- und Diskussionsreihe der
jour fixe initiative frankfurt
November 2018 bis April 2019
Alle Veranstaltungen finden statt:
Zeit: 19 Uhr
Ort: basis e.v. , Gutleutstraße 8-12,
60329 Frankfurt am Main (Bahnhofsviertel)
U-Bhf. Willy-Brandt-Platz,
Tram 11, 12: Weser- / Münchener Straße
In Zusammenarbeit mit:
basis e. v.
Heinrich-Böll-Stiftung Hessen e.V.
GEW Bezirksverband Frankfurt
GEW Regionalverband Hochschule und Forschung Südhessen